Ein einfacher Waldmönch meditierte ganz allein in einer Strohhütte im Urwald. Eines Abends kam ein orkanartiger Monsunsturm auf. Der Wind heulte ums Haus, und der Regen peitschte auf das Strohdach. Im Laufe der Nacht wuchs der Sturm an. Als Erstes hörte der Mönch, wie Zweige von den Bäumen gerissen wurden, danach vernahm er das Dröhnen entwurzelter Bäume, die auf die Erde stürzten und dabei den Donner übertönten.
Der Mönch wusste, dass ihm seine Hütte keinen Schutz bot. Ein Baum oder auch nur ein großer Ast, der auf sein Haus fiel, würde ihn sofort erschlagen. Er blieb die ganze Nacht wach. Immer wieder hörte er einen der großen Urwaldriesen stürzen, und dann klopfte sein Herz eine Zeitlang sehr heftig.
Wie so oft legte sich auch dieser Sturm in den Stunden kurz vor der Morgendämmerung. Beim ersten Licht begab sich der Mönch vor die Tür, um nachzusehen, welchen Schaden der Sturm angerichtet hatte. Viele Äste und zwei Bäume von beachtlicher Größe hatten seine Hütte fast gestreift. Er empfand es als großes Glück, überlebt zu haben. Doch plötzlich wandte er seine Aufmerksamkeit von den vielen entwurzelten Bäumen und abgerissenen Ästen ab und richtete sie auf die unzähligen Blätter, die jetzt in dichten Lagen den Erdboden bedeckten.
Wie erwartet, waren unter den toten Blättern jene in der Überzahl, die bereits braun und alt gewesen waren und ihr Leben hinter sich hatten. Dazwischen gab es viele gelbe Blätter. Aber der Mönch entdeckte auch eine Anzahl grüner Blätter, darunter solche, die so frisch und jung waren, dass sie sich erst ein paar Stunden zuvor entfaltet haben konnten. In jenem Augenblick begriff der Mönch das Wesen des Todes.
Um seine Erkenntnis zu überprüfen, blickte er zu den Zweigen über sich hinauf. Ganz klar, die meisten Blätter, die dem Sturm widerstanden hatten, waren von junger, gesunder grüner Farbe, in der Blüte ihres Lebens. Trotzdem lagen viele neu ersprossene grüne Blätter tot auf dem Erdboden und einige braune zusammengerollte Blätter hingen immer noch an den Zweigen. Der Mönch lächelte wissend. Von jenem Tag an beunruhigte ihn der Tod eines Kindes nicht mehr.
Wenn die Stürme des Todes durch unsere Familien ziehen, nehmen sie normalerweise die Alten mit, die ‚gefleckten braunen Blätter‘. Sie verschonen auch nicht jene mittleren Alters, eben die gelben Blätter, und es sterben auch junge Menschen in der Blüte ihres Lebens wie die grünen Blätter. Und der Sturm, der Schösslinge mitnimmt, reißt manchmal eben auch kleine Kinder aus dem Leben. Das ist ebenso das Wesen des Todes in unserer Gesellschaft wie es das Wesen des Todes im Urwald ist.
Am natürlichen Tod eines Kindes kann man niemandem die Schuld geben. Das ist der Lauf der Natur. Wer beschuldigt den Sturm?
Diese Erkenntnis führt uns zur Antwort auf die Frage, weshalb manche Kinder sterben. Nämlich aus genau dem gleichen Grund, weshalb auch eine kleine Zahl junger grüner Blätter den Sturm nicht überleben kann.
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